Herbstreise 2010 des Bernischen Organistenverbandes ins Südtirol
Regula Schneeberger
Nach dreizehn Jahren und ebenso vielen unvergesslichen Tages- und Wochenexkursionen ins In- und Ausland ist die Reiseleitung des Bernischen Organistenverbandes von den bewährten Händen Susy und Erich Schmids in die von Jürg Brunner übergegangen. In zeitweise fast vollamtlicher Vorbereitungstätigkeit hat Jürg Brunner – nach dem gemeinsam mit Annerös Hulliger durchgeführten eintägigen „Auftakt“ in Freiburg/CH 2009 – für den Herbst 2010 eine Orgel- und Kulturfahrt ins Südtirol geplant. Nachfolgend werde ich einiges von dem berichten, was ich von dieser eindrücklichen Reise bei mir festgehalten habe.
Sonntag, 26. September 2010: Bern – Glurns
Da wir im Unterschied zu früheren Exkursionen in dieser Woche fast ausschliesslich mit dem öffentlichen Verkehr unterwegs sein würden, hat Jürg Brunner uns dringend gebeten, nur das Allernötigste an Gepäck mitzuführen, und dies in möglichst kleinen Koffern und Taschen. Dass diese Weisung nicht von allen ganz so ernst genommen worden ist, wie sie gemeint war, verschärft unsere in Landquart ohnehin bedrängte Lage noch weiter: Da ein Bahnangestellter das Abteil, in dem unser Gepäck lagert und durch welches wir den Wagen verlassen wollen, in Zürich versehentlich von aussen verschlossen hat, gelingt es alleine dem gebirgserprobten Reiseleiter, rasch genug über unser sich in voralpinen Dimensionen auftürmendes Allernötigstes zum nächsten Ausgang zu klettern, um der Gruppe gerade noch in allerletzter Sekunde die Weiterfahrt ins Engadin zu ermöglichen. Ein Eilkurs der PostAuto AG bringt uns in für einige allzu flotter Fahrt über den teilweise verschneiten Ofenpass an unser erstes Reiseziel: ins malerische Städtchen Glurns im Vinschgau, das inklusive der Stadtmauer mit drei Toren in seiner ursprünglichen mittelalterlichen Form vollständig erhalten ist. In einer kurzen Führung erfahren wir einiges über die berührende und teilweise deprimierende Geschichte des Ortes. Im Jahres 1227 erhielt Dorf Glurns eine eigene Pfarrei, die dem Bischof von Chur unterstand, währenddem die Landesfürsten von Tirol die benachbarte Siedlung wirtschaftlich förderten und sie zum Gerichtssitz machten. Meinhard II. verlieh dem Ort das Marktrecht und verlegte 1294 den Bartolomäusmarkt von Müstair nach Glurns, das in dieser Zeit durch seine günstige Lage an der Grenze von Eidgenossenschaft und Tirol, durch eine zehnjährige Steuerbefreiung auf der einen und zahlreichen von den Händlern zu entrichtenden Abgaben auf der anderen Seite rasch einen grossen Aufschwung erlebte. Der weitherum berühmte Markt, auf dem Salz, Wein, Gewürze und Metall gehandelt wurden, verschaffte Glurns eine Blütezeit bis ins Jahr 1499, als während des Schwabenkriegs ein offener Konflikt zwischen der Eidgenossenschaft, den Drei Bünden und dem Haus Habsburg in die Schlacht an der Calven mündete, in der die Drei Bünde bei Glurns ein kaiserliches Heer vernichtend schlugen und anschliessend mordend und brandschatzend durch den Vinschgau zogen. Da gleichzeitig der Flecktyphus wütete und durch die Änderung der Handelsrouten die bisherigen wirtschaftlichen Beziehungen verlorengingen, folgte der Niedergang der Stadt, von der sie sich bis in unsere Zeit nie ganz erholen durfte. Im Laufe der Zeit wurde Glurns durch mehrere Grossbrände und eine Überschwemmung 1855 verwüstet. Erst in den 1970-er Jahren wurde der Ort im Rahmen eines Sonderprogramms gründlich saniert, entvölkerte sich jedoch immer dramatischer. Seit 2009 arbeitet ein Initiativkomitee „Stadtbelebung in Glurns“ Strategien zur Stadtentwicklung. Vordergründigste Aufgabe ist die Bewältigung eines riesigen Verkehrsproblems. Dass gut 500 Jahre nach der Calvenschlacht eine Delegation aus der Eidgenossenschaft in freundlicher Absicht nach Glurns gefahren ist, fasst Jürg Brunner in einem kleinen Benefizkonzert für den Erhalt der Orgel in der Pfarrkirche zum hl. Pankratius in ein musikalisches Bild. Das Instrument von Andreas Mauracher (Fügen im Zillertal) ist grossenteils 1804 entstanden und zeugt von einer frühromantischen Klangästhetik. Die verhältnismässig zahlreichen 8‘-Register haben je einen stärkeren Eigencharakter als die romantischer Prägung. Sie erlauben unserem Organisten reizende Drehorgeleffekte. Aufgefallen sind mir daneben vor allem die vielseitige Gambe, die je nach Mischung wie ein Klarinette oder Oboe klingt, und die in sich tremolierende 4‘-Flöte. Wie wir erfahren, ist das Konzert mit einem Schwergewicht bei schweizerischer Volksmusik das erste Orgelrezital überhaupt auf diesem Instrument. Den Abschluss unseres Anreisetags macht ein zweieinhalbstündiges Abendessen im Glurnser Posthotel, bei dem wir eine währschaft-gehobene einheimische Küche kennenlernen dürfen: Man meint es wirklich mehr als nur gut mit uns und hat nach Jürg Brunners Improvisation über den Berner Marsch vermutlich mit einem noch weit bärenhafteren Hunger unsererseits gerechnet!
Montag, 27. September: Latsch – Goldrain – Laas
Die gotische Spitalkirche zum Heiligen Geist in Latsch, eine Stiftung Heinrichs von Annenberg, beherbergt mit dem Flügelaltar des schwäbischen Bildhauers Jörg Lederer (1524) einen der wertvollsten Kunstschätze des Südtirols, der nach der im letzten Jahr abgeschlossenen Restaurierung wieder in seiner ganzen Farben-und Formenpracht erstrahlt. Die Gesamtkomposition des Altars ist zum Teil von geradezu szenischer Dramatik. Ganz im Sinne spätgotischer Ästhetik strahlen Lederers Figuren eine auffallende Milde aus, insbesondere Gottvater, der einerseits wohlwollend die Heimsuchung Marias durch den Verkündigungsengel beobachtet, andererseits im Gnadenstuhl seinen sterbenden Sohn im Schoss birgt. Das Werk zeugt von einer weit entwickelten Beherrschung der Perspektive; und die Figuren sind mit einer grossen Liebe zum anatomischen Detail – z.B. einzelner Adern – gestaltet und mit Charakterköpfen versehen, deren Vorbilder der Künstler auf dem Marktplatz studiert hat. Die Darstellung eines der Altarwächter, der heiligen Georg, erinnert allerdings an den damaligen Kaiser Maximilian I., während dem zweiten Schreinhüter, dem heiligen Florian, eine Frauengestalt aus einer lokalen Sage Patin gestanden hat. Sehr bedeutend sind auch die Tafelbilder des Dürer-Schülers Hans Leonhard Schäufelin an den Aussenseiten der Altarflügel. Wandfresken des einheimischen Malers Adrian Mair aus dem frühen 17. Jahrhundert widmen sich im Unterschied zur gotischen Kunst mit konkreten Sujets fantastischeren, weniger gegenständlichen Themen: dem Pfingstwunder, der Bergpredigt, dem Jüngsten Gericht und den Werken der Barmherzigkeit. Die Orgel von Andreas Jäger (Füssen) wurde Mitte des 18. Jahrhunderts erbaut und 1986 von Paolo Ciresa (Tesero/Trient) restauriert. Eine Besonderheit des einmanualigen Werks mit 6 Registern und kurzer Bassoktave ist der Bruch in der Lautstärke zwischen 4‘ und 2‘, der sich allerdings im Raum ziemlich ausgleicht. Über einem edlen, melancholischen Achtfussregister und einem lieblichen Vierfuss wurde ein heller 2‘ und eine recht starke Mixtur disponiert. Aufgrund der deregulierten Traktur sind die Tasten mit ganz unterschiedlichem Fingerdruck zu bedienen. Die Orientierung auf der Pedalklaviatur bietet für ans Normpedal gewöhnte Spieler eine weitere Erschwernis, da die farblich identischen Ober- und Untertasten kaum voneinander zu unterscheiden sind. Unser Kollege Max Glauser spielt auf dem wohlklingenden deutsch geprägten Instrument ein Programm mit Werken italienischer Meister, die überzeugend und – obwohl der Spieler gemäss eigenen Angaben seit 20 Jahren nicht mehr mit einer solchen Orgel gearbeitet hat – in frischer Lebendigkeit daherkommen.
Eine Wanderung im Regen führt uns zum Weiler Goldrain, der politisch zu Latsch gehörig ist. Die dortige Pfarrkirche aus dem späten 15. Jahrhundert ist dem heiligen Luzius geweiht, dem Hauptpatron des Bistums Chur, dessen Einfluss in der aufstrebenden Gegend die Tiroler Fürsten mit allen Mitteln zurückzudrängen versuchten. Erst im frühen 19. Jahrhundert kam die Orgel von Carlo Prati (Trient) aus dem Jahr 1661 in die Luzius-Kirche, wurde um ein Tonhaltepedal erweitert und steht mittlerweile auf einer wuchtigen Empore aus den 1980-er Jahren, die den gotischen Raum völlig verunstaltet. Der lockere Umgang mit Gebäuden, die in der Schweiz unter Schutz stünden und auf gar keinen Fall verändert werden dürften, wird uns in dieser Woche noch mehrmals in Staunen versetzen. Das italienische Gehäuse der Orgel beherbergt ein Instrument mit Eigenschaften, die uns von hiesigen Orgeln italienischen Stils kaum bekannt sind: ein principale fehlt, dafür gibt es einen bordone, und zwei der sechs Manualregister sind Zweifüsse. Die hohe Quinte ist entgegen dem uns vertrauteren Larigot eng mensuriert. Ebenfalls gemäss italienischer Tradition repetieren die hohen Register. Um unsere Konzentration vor dem Mittagessen anzukurbeln, verbindet Jürg Brunner mit seiner Orgelvorführung aus spanischen, italienischen und süddeutschen Kompositionen ein Registerquiz, dessen richtige Antworten er allerdings bis über das Ende der Reise hinaus für sich behalten wird.
Einer ersten deutsch-romantischen Orgel begegnen wir am Nachmittag in der Pfarrkirche zum heiligen Johannes dem Täufer in Laas. Das 1853 von Josef Sies (Bozen) erbaute Instrument bildet mit dem drei Jahre vorher an die romanische Apsis aus Laaser Marmor angefügten neuen Kirchenschiff eine wunderbare Einheit. Es sollte die grösste Orgel des Vinschgaus werden und ist mit 28 Registern noch heute eine der grösseren in der Gegend. 90 Jahre nach einem durch den rührigen Pfarrer und Kirchenmusiker angeregten Neubau mit pneumatischer Traktur war das Instrument inklusive Balganlage allerdings in einem völlig desolaten Zustand. Dem heutigen Organisten wurde als hauptberuflichem Geometer von der Orgelkommission ein kompetentes Urteil über die Situation der Orgel nicht zugetraut. Nach einer Bestandesaufnahme durch Peter Vier als „wirklichem Fachmann“ stand für die Kommission jedoch der Handlungsbedarf eindeutig fest, und man entschied sich für die kompletteste und mutigste von drei Varianten: einen Neubau mit der ursprünglichen Anzahl von 28 Registern. Die entwaffnende Rückfrage des Pfarrers auf die vom Bürgermeister geäusserten Bedenken bezüglich der Finanzierung des Projekts, ob er denn schon je gehört hätte, dass eine Pfarrei in Konkurs gegangen wäre, ebnete 2001 der Realisierung einer neuen Orgel durch Martin Vier (Friesenheim-Oberweier/D) unter Verwendung originalen Materials und damit einer „wiedergefundenen Orgelromantik“ definitiv den Weg. Charakteristika des Instruments sind zahlreiche Achtfüsse, die dem runden Klang ein breites Fundament bieten, ein im Verhältnis zum Hauptwerk relativ schwaches Positiv, ein für die Region typischer Principal piano und ein labialer, streichender Dulcian 4‘, ebenfalls eine regionale Spezialität. Katja Kofanova präsentiert uns die Orgel mit einem anspruchsvollen Programm, in dem sie unter anderem in transkribierten Sätzen aus Respighis „Antiche danze ed arie“ eine reiche Palette unterschiedlichster Klangmischungen entfaltet. Den Abschluss des Programms auf dem erfreulichen Instrument bilden einige der „frembden Thone“ und „wunderlichen variationes“, mit welchen der jugendlich-ungestüme Bach in seinen Chorälen das Arnstädter Konsistorium „confundiret“ hat.
Dienstag, 28. September: Marienberg – Marling
Auf den heutigen Morgen ist der Regen im Vinschgau dem Sonnenschein gewichen, und wir steigen hinauf zur höchstgelegenen Benediktinerabtei Europas, dem Kloster Marienberg, das majestätisch auf einem Felsplateau oberhalb von Burgeis thront. Die Abtei wurde um 1095 durch die Grafen von Tarasp gegründet und 1149/50 von Tarasp in den Vinschgau verlegt. Mönche aus Ottobeuren machten die Abtei zum religiösen, geistige und kulturellen Zentrum der Region. Plünderungen, ein Abtmord, die Pest, Bauernkriege und Religionswirren brachten das Kloster um 1600 an den Rand des Ruins. Doch verhalfen ihm schwäbische Mönche wieder zu neuem Aufschwung. Die Kirche, eine dreischiffige Pfeilerbasilika, bekam 1643-48 unter Abt Jakob Grafinger nebst dem prächtigen romanischen Portal und den hochkarätigen Stukkaturen im Renaissancestil ihr heutiges barockes Aussehen – konzipiert allerdings nicht von einem Benediktiner, sondern von einem Jesuiten, worauf uns P. Philipp Kuschmann, ein junger Priesteramtsanwärter und Kirchenmusiker, hinweist. Einer Chronik zufolge besass das Kloster bereits im 13. Jahrhundert eine Orgel, vermutlich ein Blockwerk. Nach einem Vorgängerinstrument von Carlo Prati erhielt die Kirche 1865/66 erstmals ein dem Raum angepasstes Instrument von Josef Aigner (Schwaz im Tirol), das 1922/23 von Johann Platzgummer verändert und 2001 von Martin Vier restauriert worden ist. Im Tiroler Orgelbuch wird diese grösste Orgel des Vinschgaus mit ihrem bewusst italienisch gehaltenen Prospekt als „herbe Schönheit“ bezeichnet. P. Philipp, der davon ausgeht, dass wir uns selbst mit dem Instrument vertraut machen werden, warnt uns vor einige Tücken, die das Spiel erschweren können: ein Tastendruck im Hauptwerk bei (nach oben) gekoppelten Manualen von 680 g, klappernde Trakturgeräusche, die von einer auf Schmiedeeisen gelagerten Welle verursacht werden, Pedalzungen, die „wie Rasenmäher“ klingen, und die einzige Spielhilfe, ein Basstutti. Der Anschein eines romantischen Instruments täusche, da wegen der engen Mensuren ein Mischen der Register schwierig sei. Aus demselben Grund klingt beispielsweise die Koppelflöte einem Quintatön ähnlich (eine Eigenart, die wir noch weitere Male antreffen würden). In der begrenzten Zeit, die wir zur Verfügung haben, ist es uns nach diesen Erläuterungen kaum möglich, einen plastischen Eindruck vom eigentlichen Wesen dieser Orgel zu erhalten. Mit den beiden Harmonikas in 16‘-und 8‘-Lage (becherlose Zungenregister) könnten sicher bereits dann traumhafte Klänge herbeigezaubert werden, wenn sie nur annähernd gestimmt worden wären.
Dass P. Philipps Kopf, Herz und Charisma momentan vor allem im pastoralen Bereich zur Blüte kommen, wird uns in der anschliessenden katechetischen Führung durch die Krypta der Klosterkirche deutlich. Die Fresken, die 1980 nach genau 800 Jahren in dieser Gruft freigelegt worden sind, erstrahlen in faszinierender Leuchtkraft. Sie sind eines der grössten Zeugnisse romanischen Kunstschaffens im Alpenraum und bestechen durch einen einzigartigen spirituellen Ausdruck. P. Philipps Erläuterungen zur Bedeutung dieser auch byzantinisch geprägten und in ihrem Kern ganz biblischen Fresken nehmen selbst die hartgesottensten PredigthörerInnen unter uns voll und ganz in ihren Bann. Wie alle mittelalterliche Kunst haben diese Malereien nicht einfach einen ästhetischen Sinn, sondern geben den die Stundenliturgie vollziehenden Mönchen ein Bild der Liturgie von Schöpfung und erlöster Welt. Ihr Mittelpunkt ist die „Maiestas Domini“, der auferstandene, erlöste und wiederkommende Herr, dem der irdische Mensch entgegengeht, einstimmend in das Lob der Engel, die Gottvater in wunderbarer Farbenpracht umgeben. Wir nehmen gerne in Kauf, dass sich unser Nachmittagsprogramm aufgrund dieser Sternstunde etwas verschiebt, ebenso wie Jürg Brunner es in Kauf nimmt, dass er deswegen den Lokomotivführer des Zugs, in dessen Fahrplan am Ausgangspunkt unserer nachmittäglichen Wanderung nur alle zwei Stunden ein Halt vorgesehen ist, um einen Extrastopp bitten muss, welcher uns freundlicherweise gewährt wird. Der längere Spaziergang entlang des Marlinger Waals, womit ein Arm eines Systems aus künstlichen Bewässerungskanälen bezeichnet wird, bietet uns zwischen den vielen kulturellen auch ein Naturerlebnis: Vor den blauen Südtiroler Bergen erstrecken sich Apfelplantagen, soweit das Auge reicht. Nebst der Gelegenheit, mit fast allen GruppenteilnehmerInnen ins Gespräch zu kommen, bietet sich auch jene eines leckeren Zvieris in rustikaler Umgebung. Dass wir die Orgel in der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt in Marling zu Gehör bekommen, ist dem Hansjörg Grädel zu verdanken, einem ehemaligen Mitarbeiter der Firma Kuhn, der sich nach seiner Pensionierung im Südtirol persönlich und orgelbauerisch niedergelassen hat und uns in dieser Woche begleitet. Statt wie geplant mit seinem Auto unser Gepäck von Glurns nach Meran zu transportieren (was anderweitig organisiert werden musste), hat er einen spontan aufgetretenen Schaden an der ihm von der Restaurierung im Jahr 2002 her bestens vertrauten Marlinger Orgel behoben, so dass Hans Peter Graf sich auf sein Rezital vorbereiten kann. In seiner hervorragenden Präsentation mit Kompositionen aus dem 19. und 20. Jahrhundert sowie einer Improvisation geht er geradezu auf im ganzen Kosmos an Farbschattierungen, welche mit dem pneumatischen Kegelladeninstrument von Josef Behmann (Schwarzach im Vorarlberg) aus dem Jahr 1911 dank seiner ausgefeilten, bereits leicht orgelreformerisch beeinflussten Intonation erzeugt werden können. Allzu schnell müssen wir uns leider losreissen, um rechtzeitig im Hotel Aurora in Meran Quartier beziehen zu können. Wir staunen über versilberte Möbel, Luxusbadewannen und eine internationale Haute cuisine – aber schliesslich sind wir in einer Kurstadt und geniessen bald das entsprechende Ambiente. Nicht gering ist allerdings Max Glausers Verwunderung über die Wunderkerzen auf seinem Nachtisch, die sich, als dazu der Barpianist im Nebenraum jemanden musikalisch hochleben lässt, unter uns wellenförmig ausbreitet, bis klar wird, dass der Jubilar des Tages ein anderer Herr mit weissem Haar ist, nämlich Erich Schmid, der uns mit Susy heute ins Südtirol gefolgt ist.
Mittwoch, 29. September: Meran – Meran Untermais
Die Pfarrkirche Maria Himmelfahrt von Meran ist in ihrer Architektur eine nahe Verwandte der Berner Marienkirche. Das optisch sehr ansprechende Gehäuse der 1967 resp. 2004 erbauten Orgel von Barthélémy Formentelli (Pedemonte, Provinz Verona) füllt das ganze Chor und fügt sich bestens in den Raum ein. Klanglich präsentiert sie sich uns als Instrument in Topzustand mit selbst im Bass sehr gut zeichnenden Registern, die eher hell als gravitätisch wirken, ganz dem neobarocken Klangideal entsprechend, das hier gemäss dem altitalienischen Ripienoprinzip verwirklicht wird, also mit repetierenden und beliebig kombinierbaren Einzelstimmen der Mixtur. Die Intonation der Orgel ist beispielhaft für die Überzeugung, mit der in Italien heute noch Klangvorstellungen realisiert werden, wie sie um 1960 auch bei uns üblich waren. Durch die engen Mensurierungen tönen Prinzipale wie Gamben und Flöten quintatönig. Innerhalb der einzelnen Register zeigt sich Formentellis intonatorischer Eigenwille: Mit dem Ziel eines farbenfroheren, lebendigeren Klangs wurden die Töne eines Registers zum Teil sehr unterschiedlich intoniert – eine Idee, die sicher ihre Berechtigung hat, deren konsequente Umsetzung allerdings Orgelbauer nördlich der Alpen eher dazu bringt, zum Werkzeug zu greifen und die Intonationsdifferenzen auszugleichen. Im Unterschied zu den alten italienischen Orgeln verfügt das Instrument von Formentelli über zahlreiche Zungenregister, inklusive einer horizontalen „tromba real“ – jenem Register, das Gerüchten zufolge nach der Fussball-WM da und dort in „Vuvuzela en chamade“ umbenannt wurde –, was unsere Kollegin Katja Kofanova dazu animiert hat, in ihr wiederum brillant vorgetragenes Konzertprogramm nebst einem alten auch einen modernen Franzosen aufzunehmen.
Einmanualige Orgelpositive aus dem 19. Jahrhundert sind uns aus der Schweiz nur wenige bekannt. Im Südtirol sind sie hingegen nicht selten anzutreffen. Ein sehr schönes Instrument dieser Gattung findet sich in der Kirche Maria Trost im Meraner Stadtteil Untermais. 1876 von Josef Sies erbaut, weist es nebst dem uns bereits bekannten labialen Dulzian eine weitere Tiroler Eigenart auf: eine 5-3-fache Mixtur, deren Anzahl Chöre also nach oben abnimmt. Darüber, wie sie einzusetzen ist, wird man als Spieler sicher rätseln. Jürg Brunners Rezital mit Werken von Pachelbel über Brahms bis zu Vierne lässt uns staunen ob einer Vielfalt an klanglichen Möglichkeiten, hinter denen man kaum eine 11-registrige Kleinorgel mit immerzu angekoppeltem Pedal vermuten würde.
Eine unerfreuliche Situation treffen wir in der Pfarrkirche zum heiligen Vigilius ebenfalls in Untermais an. Niemand von uns fühlt sich in dem Raum wohl, der 1934-36 über der gotischen Apsis errichtet wurde und noch romanische Fresken und einen gotischen Altar beinhaltet, die hier eher „eingelagert“ wirken. Keine zwei Dinge scheinen hier zueinander zu passen. Die 1999 von Martin Pflüger (Feldkirch) erbaute dreimanualige Orgel mit 42 Registern und freistehendem Spieltisch ist an ihrem Standort dermassen eingeengt, dass sich ihr Klang im Kirchenschiff gar nicht entfalten kann. Für Max Glauser eine eher undankbare Aufgabe, ein Instrument vorzustellen, das man als Hörer aus den genannten Gründen vermutlich schlechter beurteilt, als es tatsächlich ist, ihm jedenfalls nicht gerecht werden kann.
Von heiligen Vigilius geht’s für die meisten von uns zum etwas weniger heiligen Bacchus und einer Weindegustation in der Cantina an der Via S. Marco. Da ich es vorziehe, mich an den wunderbaren Promenaden entlang der Passerschlucht mit ihrer immergrünen, zum Teil tropischen Vegetation etwas zu entspannen, kann ich über die sich offenbar nach und nach zum Kabarett entwickelnde Vorführung nicht berichten. Hingegen werde ich bei meinem Abstecher in den Meraner Dom Zeugin davon, wie unser Kollege Erwin Messmer während der Vorbereitung seines morgigen Rezitals von einem Sakristan in bester Carabiniere-Manier von der Empore vertrieben wird, da die Schliesszeiten ohne Wenn und Aber einzuhalten sind und Schlüssel nicht ausgegeben werden.
Donnerstag, 30. September: Meran – Dorf Tirol – Meran
Ueli Burkhard, der uns in diesen Tagen immer wieder unaufdringlich mit historischen und kunstgeschichtlichen Informationen versorgt, die wir insbesondere dank seinem Talent, Entwicklungsverläufe und Zusammenhänge gut überschaubar zu skizzieren, gerne entgegennehmen, gibt uns an verschiedenen Orten des Stadtzentrums einen kurzen Abriss über die Geschichte Merans. Im 13. Jahrhundert wurde Meran zur Landeshauptstadt und damit zum Mittelpunkt der Grafschaft Tirol. Nach der Abdankung der letzten Tiroler Gräfin Margarethe Maultasch 1363 übernahm das Haus Habsburg die Geschicke Tirols, machte Innsbruck zur neuen Hauptstadt, und Meran verlor seine Bedeutung. Nach den Tiroler Freiheitskämpfen gegen die französische Besatzung 1809/10 erlebte Meran jene Veränderungen, denen es das Prädikat „Kur- und Villenstadt“ verdankt. Renommierte Ärzte interessierten sich für das milde Klima, Meran wurde zum beliebtesten Reiseziel des mitteleuropäischen Adels und erlebte seinen grössten Aufschwung mit einem neuen Straßennetz, eleganten Hotelanlagen, Parkanlagen, die noch heute das Flair der Stadt prägen und mit dem herrschaftlichen Kurhauses, einer der schönsten Jugendstilbauten des Alpenraums. Wiederum führte ein Krieg zu einem Wendepunkt in der Geschichte Merans: 1914 nahm die Blütezeit ein abruptes Ende. Erst nach dem 2. Weltkrieg gelang ein wirtschaftlicher und touristischer Wiederaufbau.
Aufgrund des jähen Abbruchs seiner gestrigen Übzeit muss Erwin Messmer sein Konzertprogramm im Meraner Dom kürzen. Nichtsdestotrotz kommen wir in den Genuss einer beeindruckenden und gemessen an den Umständen souveränen Präsentation des Instruments mit seiner schwer durchschaubaren Spieltischordnung, einer Vorführung auch grosser Werke mit vielen Umregistrierungen. Die 1973 von Gregor Hradetzky (Krems) erbaute Orgel wurde von Anfang an nicht sehr gut bewertet, Angaben des Organisten zufolge war sie gar nie abgenommen worden. Durch Gerhardt Hradetzky, den Sohn des Erbauers, wurde sie 1998 einer tiefgehenden Renovation unterzogen, die zu wesentlichen klanglichen Verbesserungen führte. Entstanden ist ein farbenreiches, recht universales Instrument, das nun auch von Persönlichkeiten wie Olivier Latry im Konzert gewürdigt wird.
In der Pfarrkirche zum heiligen Johannes in Dorf Tirol begegnen wir zum dritten Mal einem Instrument von Josef Sies, der hier allerdings ältere Pfeifen von Wörle und Humpel verwendete, die sich klanglich gut mit den neuen mischen. Erbaut wurde die zweimanualige Orgel 1859, restauriert durch Orgelbau Pirchner (Steinach im Tirol) 1972. Das auf 27 Töne erweiterte Pedal wurde bei einer Revision 2005 von Orgelbau Oswald Kaufmann belassen (bei Orgeln aus dem 19. Jahrhundert sind im Südtirol 1-Oktav-Pedale üblich). Das Gehäuse stammt vom Schnitzer des Hochaltars der Kirche. Die Schleierbretter sind, sonst ein Spezifikum von Renaissance-Instrumenten) auf die Länge der Pfeifen geschnitzt. Das sympathische Instrument wurde uns vom einheimischen Organisten Stefan Gstrein vorgestellt. Die Kirche, von welcher die Orgel umgeben wird, ist eine der ersten neugotischen Bauten der Region. Sie entstand 1854-56, hat einen quadratischen Grundriss und verfügt über eine hervorragende Akustik.
Das körperliche und soziale Wohlbefinden fördern die meisten von uns am Nachmittag mit individuellen Wanderungen in kleinen Gruppen zum Schloss Tirol oder durch die Rebberge hinunter nach Meran. Hier gibt im Rahmen des Max-Reger-Festivals Jürg Brunner ein öffentliches Konzert in der evangelischen Christuskirche mit Werken aus der deutschen Romantik, das zu einem der Höhepunkte der Woche wird. War es bereits in der Kirche Maria Trost erstaunlich, was eine 11-Register-Orgel alles „vermag“, so scheint es uns erst gänzlich unglaublich, dass mit diesen 15 Registern einerseits grössere Kompositionen Mendelssohns und Regers mit aller nötigen Substanz dargestellt, andererseits genügend kammermusikalische Klangmischungen für Schumann und Rheinberger komponiert und sogar Transkriptionen von Klavierstücken Chopins mit dem entsprechenden Schmelz interpretiert werden können – wenn denn eben ein Organist am Werk ist, der sich voll und ganz auf das Wesen eines Instruments einlassen kann. Die Orgel von Steinmeyer stammt aus dem Jahr 1885 und wurde 1999 von Kuhn restauriert. Ihr Gehäuse trägt englische und italienische Stilmerkmale des 19. Jahrhunderts und der beginnenden Moderne.
Freitag, 1. Oktober: Bozen Gries – St. Pauls – Auer – Völs am Schern
Der dichteste Tag unserer Südtirol-Reise verspricht uns Begegnungen mit nicht weniger als sechs Orgeln. Zum zweiten Mal betreten wir am heutigen Vormittag eine evangelisch-lutherische Kirche, und zwar in Bozen-Gries. In Sachen geistlicher Betreuung protestantischer Kurgäste stand Bozen lange in Merans Schatten, das 1885 eine lutherische Kirche erhielt (s.o.), während in Bozen die Gottesdienste noch im Kurhaus stattfinden mussten. Im Jahre 1908 konnte aber die neugotische Christuskirche eingeweiht werden. Nach der Bombardierung Bozens, während welcher der Hochaltar einem Brand zum Opfer fiel, leisteten sowohl der lutherische Weltbund als auch Privatpersonen, deren innere Verpflichtung in Diasporagebieten wie diesem mitunter sehr hoch ist, finanzielle Hilfe zum Wiederaufbau. Da etliche Mitglieder des Kirchenvorstands nicht lutherisch, sondern reformiert sind, wurde – etwas zum Leidwesen des frisch gewählten Pfarrers – das Kruzifix über dem neuen Altar entfernt. Die grösste bauliche Veränderung, welche der luftige Raum bisher erlebte, ist der Einbau einer Orgel im Stile Arp Schnitgers durch Glauco Ghirardi (Lucca) im Frühling dieses Jahres – womit die Gemeinde ein ganz spezielles Zeichen ihrer Verbundenheit mit der Mutterkirche in Deutschland gesetzt hat. Glauco Ghilardi studierte Philosophie und Kirchenmusik, kam eher durch Zufall zum Orgelbau und restaurierte in den 80-er Jahren zahlreiche Instrumente. Auf eine Einladung Harald Vogels besuchte er Norddeutschland, studierte dort eingehend die Orgeln Arp Schnitgers und baute selber ein Instrument im norddeutschen Stil. Von dieser Orgel begeistert, empfahl Leonhard Tutzer, Organist an der Christuskirche, Ghilardi der Gemeinde als Orgelbauer. Das noch ganz junge zweimanualige Instrument ist keine Kopie einer bestimmten Schnitger-Orgel, dennoch wirkt der Prospekt wie St. Jacobi (Hamburg) aus dem Gesicht geschnitten. Der Klang, den wir in einem beeindruckenden Konzert Leonhard Tutzers zu hören bekommen, ist in seiner Klarheit und Helle wirklich sehr norddeutsch. Die nicht ganz stilechte handwerkliche Realisierung mit gekreuzten Trakturwegen und Plexiglas-Schleifen führt bei den Orgelbaufachleuten unter uns allerdings zu einigem Stirnrunzeln.
In eine völlig andere Klangwelt treten wir in der Stiftskirche Muri-Gries ein. Nachdem Kaiser Joseph II. das Stift Bozen-Gries aufgehoben hatte, wurde es 1845 von Benediktinern aus Muri im Kanton Aargau neu besiedelt, deren Kloster nach dem Aargauer Kirchenstreit ebenfalls aufgelöst worden war. Die Abtei unterhält nebst dem Kloster auch noch ein Priorat in Sarnen und ein Hospiz in Muri. 1971 musste die elektropneumatische Kegelladen-Orgel von Anton Behmann (Schwarzach im Vorarlberg) aus dem Jahr 1907 einem Neubau durch Mathis weichen, wurde von der Empore in eine Seitennische über dem Chorraum verlegt und von P. Kolumban Gschwend gemeinsam mit Mathis vergrössert und barockisiert. Alle Kernstiche wurden dabei entfernt und Pfeifen auf Ton abgeschnitten. In einer Pionierleistung machten Hansjörg Grädel und Pierre Barré (wie Letzterer mir erzählte, der Kälte wegen oft in Wolldecken eingehüllt) von Kuhn alle diese Veränderungen 2001 rückgängig, ergänzten die Pfeifenlängen, bohrten neue Kernstiche und stellten die originale Disposition Behmanns wieder her, wozu die Gehäuseaufstellung neu gegliedert werden musste, und setzten Ausgleichsbälge ein. Bis auf zwei Register stammt alles Pfeifenmaterial aus dem originalen Bestand. So durfte ein fantastischer spätromantischer Klangkörper zu neuem Leben erwachen. Wie in Erwin Messmers Konzert mit Werken von Karg-Elert, Liszt, Franck und Vierne erlebbar wird, arbeiten Raum und Instrument ideal zusammen, so dass vom feinen Säuseln bis zum brodelnden Meer jede Klangqualität weit herum ausstrahlen kann. Und wie einer „unserer“ Orgelbauer, der bei der Restauration nicht beteiligt gewesen ist, findet, darf die Behmann-Clarinette wohl als die europaweit schönste gelten.
In St. Pauls, wo Hansjörg Grädel, wenn er nicht in orgelbauerischem Auftrag unterwegs ist, als technischer Bademeister des Zisterzienserinnen-Klosters arbeitet, stärken wir uns für den Nachmittag und besuchen anschliessend die Pfarrkirche zur Bekehrung des heiligen Paulus – oder volkstümlich: den „Dom auf dem Lande“. Hannes Torggler präsentiert uns hier die in barockem Stil neugebaute Schwalbennestorgel und die Hauptorgel von Reinisch. 1599 erhielt die Kirche eine Schwalbennestorgel von Schwarzenbach, die 1689 beim Bau eines Instruments von Casparini auf der Empore nach Auer verkauft wurde, wo wir sie heute noch zu sehen und zu hören bekommen werden. Über drei Jahrhunderte blieb dann der Platz an der Wand über dem Chorraum leer, bis er 2002 wieder durch ein Schwalbennest ausgefüllt wurde. Diese sehr solide gebaute Orgel mit 22 Registern auf zwei Manualen (mit 16‘ im Hauptwerk) und Pedal von Leon Verschueren (NL) hält sich trotz bereits überstandener extremer Sommer und Winter an ihrem Standort sehr gut. Hannes Torggler stellt uns das Instrument, auf welchem er Buxtehudes Gesamtwerk eingespielt hat, mit einer Reihe früh- bis spätbarocker Werke sowie zwei Stücken von Petrali und einem zeitgenössischen Engländer vor, die vielleicht weniger repräsentativ sind, aber von einer Gottesdienstgemeinde zur Abwechslung sicher geschätzt werden. Die Hauptorgel von Franz Reinisch, die 1895 das schadhafte Instrument Casparinis auf der Empore ersetzte, wird durch eine mechanische Kegellade mit Barker gesteuert und ist mit Ausnahme neuer Zinnpfeifen im Prospekt, mit welchen 1998 von Pirchner die im 1. Weltkrieg eingebauten Zinkpfeifen ersetzt wurden, unverändert erhalten. Während des Präsentationskonzerts, in welchem der Organist dem Instrument, ungeachtet seiner eigentlichen Stärken im sanften Bereich, immer gewaltigere Klangmassen abfordert, die jemanden aus unserer Gruppe an einen wildgewordenen Männerchor denken lassen, betritt unten der Sakristan das Kirchenschiff, und je länger der Orgelvortrag dauert, desto weitläufigere Bahnen zieht das Kabel seines Staubsaugers, das er wie in Zeitlupe, in bedächtiger und gänzlich unprovokativer Weise durch den Mittelgang vor und zurück auszurollen beginnt. Seine Antwort auf Fragen unsererseits, ob er mit der Reinigung noch zehn Minuten zuwarten würde, ist ein Gesichtsausdruck, der Bände spricht über das Unverständnis darüber, dass eine Orgelpräsentation die Erfüllung der Sakristanenpflicht aufschieben soll. Nach dieser herrlichen Szene lernen wir in einer kurzen Improvisation Jürg Brunners doch noch die wohl grösste Qualität der Reinisch-Orgel kennen: eine traumhafte 8‘-Basis, mit der man sich ohne Schweller, durch blosses Auf-und Abregistrieren, fast stufenlos in einer erstaunlichen dynamischen Bandbreite hin- und herbewegen kann.
Auf der Südtiroler Weinstrasse nahe dem Kalterer See fahren wir (heute mit Bus) ins Dorf Auer, wo uns in der gotischen Kirche zu St. Peter wiederum Leonhard Tutzer die im Jahr 1599 erbaute und ursprünglich in St. Pauls (s.o.) beheimatete Orgel von Hans Schwarzenbach (Füssen) vorstellt. Das 1986 von Pirchner restaurierte Instrument gilt als älteste bespielbare Orgel des Südtirols. Ihr wunderschönes Gehäuse mit bemalten Flügeltüren trägt mit der flachen Front typische Züge der späten Renaissance.
In Völs am Schern begegnen wir in der Pfarrkirche Maria Himmelfahrt ein letztes Mal einer Orgel, an welcher sowohl Ignaz Franz Wöhrle (Bozen) als auch Josef Sies gearbeitet haben: Gebaut wurde das Instrument vermutlich um 1750 von Wöhrle und nach einigen zwischenzeitlichen Veränderungen 1863 von Sies erweitert. Restaurierungen durch Pirchner erfolgten 1971 und 1999. Ein zweites Mal knüpft Jürg Brunner eine Orgelvorführung – diesmal dank dem Glockenspiel mit einem Abstecher in Mozarts Zauberflöte – an ein heiteres Klängeraten, das diesmal auch aufgelöst und von Erwin Messmer ohne Punkteabzug gewonnen wird. Schon wieder jedoch geraten wir in Konflikt mit dem ordentlichen Pfarreileben: Dass der Applaus der Gruppe für Jürg Brunner fast mit dem Einzug von Pfarrer und Messdienern für die eucharistische Anbetung am heutigen Herz-Jesu-Freitag zusammenfällt, ist uns doch sehr peinlich, und wir hoffen, dass uns dieser Fauxpas dank der Vermittlung des einheimischen Organisten verziehen werden kann, der uns verspricht, seinen Berner Bärenlebkuchen mit dem Pfarrer zu teilen.
Wie sprachlos wir von den vielen Eindrücken des Tages sind, zeigt sich, als wir in unserem Hotel in Brixen auf das Abendessen warten und eine Kollegin das minutenlange Schweigen am Tisch mit der Erklärung bricht, es müsse ja nicht unbedingt sein, aber sie überlege sich, wie man trotz allem noch eine funktionierende Konversation in Gang setzen könnte – was dann ihre Nachbarin übernimmt und von einer Reise nach Dresden und dem Besuch der „Semper-Orgel“ erzählt…
Samstag, 2. Oktober: Brixen – Bern
In Brixen erfährt unsere Reise ins Südtirol einen wahrhaft krönenden Abschluss. Die älteste Stadt des Tirols, die sich mit Bozen einen Bischofssitz teilt, war jahrhundertelang einflussreicher Sitz von Fürstbischöfen, die von 1027 bis 1803 deutsche Reichsfürsten waren. Kirchengeschichtlich bedeutsam wurde unter anderen Nikolaus von Kues (Bischof von 1450-64). Auf dem Domplatz stehen Bischofs- und Leutkirche direkt nebeneinander. Unseren ersten Besuch statten wir der Orgel in der Pfarrkirche St. Michael ab, deren Gehäuse von Johann Rochus Egedacher in einer reichen Überfülle ausgestattet ist, wie man sie selten antrifft. Den Prospekt ziert ein ganzes Orchester aus musizierenden Engeln. Egedacher errichtete diese Orgel 1740/41 für die zeitgleich in barockem Stil umgebaute Kirche. Das Instrument erfuhr mehrere Veränderungen, die umfassendste 1857/58 durch Josef Aigner, und enthält heute Pfeifen aus allen Epochen seiner Geschichte. Dementsprechend hat Hans Peter Graf ein Konzertprogramm zusammengestellt, in dem nebst hoch- und spätromantischer Musik auch unbekanntere Werke von Zeitgenossen Egedachers (Albrechtsberger, Auberlen) vertreten sind, womit die Vielfalt der Orgel zur Geltung kommt. In der Michaelskirche kommt es ausserdem zu einem Wiedersehen mit P. Philipp, der in Brixen das Amt eines Domdiakons bekleidet. Vor den Kirchen spielt sich währenddessen ein Kontrastprogramm ab: Das Brotfest der einheimischen Bäcker auf dem Domplatz wird umrahmt von Blasmusikvorträgen.
Der Brixner Dom ist die ranghöchste Kirche Südtirols und der Himmelfahrt Mariens und dem heiligen Kassian geweiht. Es ist nicht auszuschliessen, aber auch nicht belegt, dass es hier bereits im 10. Jahrhundert eine Orgel gab. Die erste urkundlich gesicherte Nachricht über eine Orgel stammt aus dem Jahr 1531. 1690/91 baute Eugenio Casparini, dem unter anderem die Görlitzer Sonnenorgel zu verdanken ist, ein dem Zeitgeschmack entsprechendes barockes Instrument. Obwohl bis zum Neubau des Domes 1746–1754 unter den Fürstbischöfen Kaspar Ignaz Graf Künigl und Leopold Graf Spaur die Orgel getreulich ihren Dienst tat, wurde 1756 Franz Simnacher (Angelberg im Allgäu) mit dem Bau eines neuen Instruments betraut. Nach dem schon ein Jahr später verstorbenen Meister übernahm dessen Schwager Alexander Holzhey die Weiterführung des Orgelbaues, der im November 1758 vollendet wurde. Ein pneumatisches Instrument der Gebrüder Mayer (Feldkirch) bewährte sich auch nach einem Umbau auf das elektropneumatische Steuerungssystem durch Dreher und Flamm (Salzburg) 1931 nicht, sodass es 1980 zu einem Neubau durch die Firma Pirchner kam, der sich an der originalen Disposition Simnachers mit drei Manualen, 46 Registern und 32‘-Pedal orientiert. Das Gehäuse wurde in seiner ursprünglichen Form rekonstruiert, der grossartige Prospekt von Simnacher mit 17 Pfeifenfeldern blieb erhalten. Wieder eingebaut wurde das Glockenspiel von 1758, das bei den Nachfolgeinstrumenten nicht mehr gebraucht worden war. Ein festliches und begeisterndes Rezital von Domkapellmeister Heinrich Walder beschliesst den musikalischen Teil der reichhaltigen Orgelwoche. Uns bleibt noch etwas Zeit für die Fresken verschiedenster Meister der frühen Gotik im Kreuzgang, die zahlreiche Bibelstellen illustrieren. Danach treten wir die landschaftlich sehr lohnenswerte Rückfahrt über den Brenner via Innsbruck nach Bern an.
Im Namen der Reisegruppe möchte ich allen herzlich danken, die zum Gelingen der reichhaltigen Exkursion beigetragen haben, allen voran Jürg Brunner, aber auch Hansjörg Grädel, Ueli Burkhard und den vier Kolleginnen und Kollegen, die uns in hochkarätigen Präsentationen die Orgeln nahegebracht haben!